Ein Plädoyer für die Auseinandersetzung mit sich selbst
Vom Zeitpunkt unserer Zeugung beginnt unsere Entwicklung. Entwicklung ist eigentlich nichts anderes als ein kontinuierliches Wachsen und Vergehen,ein ewiges Geboren werden und Sterben. Zu bestimmten Zeiten geschieht Entwicklung sehr bewusst, oft aber im Unbewussten, ohne dass wir es mit bekommen. Und sie geschieht auf verschiedenen Ebenen und Bereichen.
Die körperliche Ebene
Unser Körper ist vom Moment der Zeugung an einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess unterworfen. Unsere Zellen sterben ständig - und ständig entstehen neue. Täglich sterben ca. 50-70 Milliarden Zellen und werden wieder neugebildet. Nur so ist der Körper überlebensfähig. Das heißt, das Sterben und neue Entwicklung auf Zellebene hält uns am Leben
Bindung und Beziehung
Auf der Ebene von Bindung und Beziehung beginnt ebenfalls alles mit dem Moment der Zeugung. Im Mutterleib und den ersten Monaten unseres Lebens sind wir eine Einheit mit unserer Mutter. Alles was sie fühlt und erlebt, erleben wir auch.
Mit ca. 1 ½ Jahren kommt dann die „Trennung“ von der Mutter – wir entdecken als Kind unser eigenes ICH. Wie ein kleiner Tod und eine 2. Geburt.Wenn irgendwann Geschwister trennen wir uns wieder von einem Stück Eltern, da wir sie jetzt „teilen müssen“.
Dann kommt irgendwann die Pubertät und die Abnabelung. Und dieses Mal erleben sowohl wir als auch unsere Eltern, bzw. die Personen, bei denen wir groß werden eine Trennung und die Geburt von etwas Neuem.
Emotionen
Auch Emotionen unterliegen dem Prinzip von Geburt und Tod. Emotionen entstehen und nach einer gewissen Zeit, in denen sie von uns durchlebt werden gehen sie wieder. Manchmal kommen sie wieder zurück, haben dann aber eine andere Qualität.
Es kann zum Beispiel sein das wir um den Tod eines lieben Menschen trauen und dafür mehr oder weniger Zeit dafür brauchen. Nach einiger Zeit ist diese Trauerphase durchlebt und wir kommen wieder ins Leben zurück. Es kann sein, dass wir trotzdem später nochmal in einen Trauerprozess kommen. Meistens ist dieses Gefühl der Trauer dann aber anders als die Trauer, die wir beim ersten Mal gespürt haben.
Oder wir verlieben uns neu in einen Menschen. Nach einer gewissen Zeit vergeht vielleicht das Gefühl des Verliebt seins und wandelt sich in eine andere Form von Liebe. Wenn die Liebe Bestand hat, kommt es immer wieder zu Phasen wo wir Schmetterlinge im Bauch fühlen. Dies kann für uns die gleiche aber auch eine andere Intensität als beim ersten Mal haben.
Störung von Entwicklungen
Da Entwicklung auf allen Ebenen passiert, kann es auch auf allen Ebenen zu Störungen kommen.
Auf körperlicher Ebene kann es eine Störung auf Zellebene geben. Dies führt in der Regel zu Krankheiten Aber auch die „falsche Behandlung“ des Körpers kann zu Krankheiten führen. Dazu zählen
- zu wenig, zu viel oder falsche Bewegung
- falsche Ernährung
- die Einnahme von Drogen
- Medikamenten-, Tabak-, oder Alkoholmissbrauch
Missbrauch wiederum kann sich in Sucht wandeln und jede Sucht schwächt auf lange Sicht gesehen den Körper.
Auf Bindungs- und Beziehungsebene zeigen sich Störungen ebenfalls auf unterschiedlichen Ebenen.
Auf emotionaler Ebene entstehen Störungen immer dann, wenn wir unserer Emotionen zu intensiv fühlen, nicht oder zu wenig zulassen oder zu lange daran festhalten.
Und manchmal kommt es vor, dass wir ein Gefühl wahrnehmen, aber dahinter eigentlich ein ganz anderes Gefühl steht, dem wir uns aber nicht stellen wollen.
Wenn ich beispielsweise um den Verlust meines Arbeitsplatzes trauere oder niedergeschlagen bin aufgrund einer Trennung ist Trauer eine angemessene Reaktion. Bin ich zu lang und zu tief in der Trauer und drehen sich meine Gedanken nur noch um das auslösende Thema, dann besteht die Gefahr dass daraus sich eine Depression entwickelt. Auch dies kann noch eine gesunde Reaktion sein. Hält sie allerdings zu lange an und behindert sie den Alltag über Gebühr wird aus einer ehemals gesunden Reaktion eine Störung.
Die eigene Entwicklungsarbeit
Eigene Entwicklung ist immer mit Arbeit verbunden. Sie beginnt mit dem ersten Atemzug. Ein einfaches Beispiel dazu.
Kinder fallen zwischen 200 bis 4000 Mal auf ihre Knie, ehe sie laufen können. Das kann wehtun und jedes Mal arbeiten ihre Muskeln. Aber sie versuchen es immer wieder, bis sie es geschafft haben zu stehen. Und dann beginnt das Ganze wieder von vorne, weil nach dem Stehen kommt das Laufen lernen.
Weitere Beispiele sind
Es gibt viele weitere Beispiele. Eins haben sie immer gemeinsam; sie sind am Anfang immer mit Arbeit und Disziplin verbunden.
Auch Beziehungen gesund zu leben ist echte Arbeit. Allein eine gute Balance zu finden zwischen, „was gebe ich rein“ und „was brauche ich“ ist ein Kraftakt, wenn die Phase des verliebt seins vorbei ist und der Alltag kommt.
Entwicklung findet also einerseits immer auf der körperlichen und Bindungsebene statt. Diese sind meist sichtbar. Und bei Emotionen?
Die emotionale Arbeit findet erst einmal in mir statt. Es sind meine Emotionen, die mir gut tun oder mich belasten. Es heißt nicht umsonst:
“Ich ärgere mich“ oder „Ich freue mich“
Erst einmal – Emotionen sind gut! Sie sind innere Hinweise, dass uns etwas beschäftigt und/oder berührt. Zur Entwicklung der Emotionen gehört es, diese in einem gesunden Maße zu kontrollieren. Aus einer gesunden Kontrolle entsteht angemessenes Verhalten. Dies ist nicht in allen Lebenssituationen möglich. Menschen in Extremsituationen haben logischerweise andere Dinge im Kopf und Herz als ihre Emotionen zu regulieren
Die „gesunde“ Entwicklung von Emotionen ist also eine Leistung, die wir alle im Laufe unseres Lebens aufbringen, der eine früher, der andere später, manche nie. Diese Entwicklung ist mit Arbeit und meist auch mit Auseinandersetzung mit mir und/oder anderen verbunden.
Oft entwickeln wir uns alleine, im Stillen. Manchmal entwickeln wir uns mit Hilfe anderer Menschen, Freunden, Familienmitgliedern, Arbeitskollegen. Diese Entwicklung findet sowohl friedlich, als auch in Auseinandersetzungen statt.
In anderen Lebenssituationen, wenn wir es alleine oder mit anderen nicht mehr schaffen, ist es gut sich professionelle Hilfe zu holen. Sich einzugestehen, dass ich Hilfe brauche ist ein großer Schritt und gleichzeitig eine große Stärke. Manchmal sind wir so in uns selbst gefangen, dass wir eine „Entwicklungshelfer“ brauchen, um wieder in den Fluss des Lebens zu kommen. Allerdings gilt, ein guter Entwicklungshelfer trägt uns nicht zum Ziel, sondern unterstützt uns dabei die eigenen Kräfte wieder zu finden
Eine Einladung zu einem kleinen Selbstversuch
Ich lade Sie zu folgenden Selbstversuch ein
Nehmen Sie sich eine Stunde Zeit. Es sollte eine Stunde sein, in der Sie normalen Alltag erleben. Gehen Sie in dieser Stunde einmal bewusst achtsam mit Ihren Emotionen um. Achten Sie auf Ihre Emotionen, wie Sie auf ein geliebtes Kind achten würden. Nehmen Sie sie wahr ohne zu bewerten. Nehmen Sie wahr, welche Handlungen sich aus Ihren Emotionen ergeben. Wenn Ihnen ein Stunde zu lang erscheint, fangen Sie mit 5 min. an. Aber fangen Sie an!
Nach dieser Zeit machen Sie sich ein paar Notizen:
Wenn Sie dieses kleine Experiment immer wieder durchführen und nach und nach die Zeit verlängern, werden Sie mehr und mehr die feinen Abstufungen in Ihrem Gefühlsleben kennen lernen. Und Sie lernen die Auslöser für Ihre Emotionen kennen. Das alleine hilft Ihnen bereits Zusammenhänge zwischen Auslösern und Emotionen wahrzunehmen. Nach dem Erkennen, können Sie entscheiden, ob und wie Sie damit arbeiten wollen. Beispielsweise könnten Sie sich entscheiden, in Zukunft anders mit bestimmten Auslösern umzugehen, bzw. darauf zu reagieren.
Und da kommt wieder der Satz „Entwicklung ist Arbeit“ ins Spiel. Verändertes Verhalten lernen wir nicht von jetzt auf gleich. Es braucht Zeit und Geduld. Der Lohn allerdings ist ein freieres Erleben des eigenen Ich`s und die Entwicklung von mehr Wahlmöglichkeiten für das eigene Leben.
In diesem Sinne viel Spaß und Erfolg bei dem kleinen „Experiment“.
Gute Entwicklung
Rudi Hanke